Ihr schönstes Erlebnis aus der Kinderzeit hat Liesl Wacker aus Mitterfels für uns aufgeschrieben: Sie erinnert sich noch ganz genau an einen Tag mit ihrem Vater.
Als mein Vater im Sommer 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, gab es hier im Bayerischen Wald kaum eine Verdienstmöglichkeit. Mein Großvater und die männlichen Verwandten meines Vaters verstanden sich alle auf die Schnitzerei, was lag da näher, dass es Vater auch versuchte.
Mit viel Eifer begab er sich an die Arbeit und als Erstes entstanden Hausnummernschilder, dann waren es Tabakdosen oder Schmuckschatullen, auf diese wurden Motive aus unserer Gegend geschnitzt. Vaters Fingerfertigkeit erlaubte es aber schon bald, dass er sich an Figuren oder Wandkreuze mit Herrgott traute. Freilich bis der erste Herrgott dem kritischen Blick meines Vaters standhielt, wanderte manch Begonnenes in den Ofen. Besonders die erste Krippe mit Josef, Maria, einigen Engeln, aber auch den Heiligen Drei Königen und Tieren, war eine harte Herausforderung. Man bedenke, das Jesuskind war nur vier Zentimeter groß. Nun waren aber nur wenige Schnitzereien auf Bestellung angefertigt, die anderen Sachen mussten verkauft oder in Lebensmittel umgetauscht werden. Mein Vater war zwar ein sehr fleißiger und mutiger Mann, aber seine sehr kunstvoll geschnitzten Sachen fremden Leuten anzubieten, war für ihn unmöglich.
Wenn er also wieder einiges zur Auswahl hatte, sagte er zu mir: „Liesl, morgen früh um 5 Uhr fahren wir mit den Radeln los, zum Tauschen.“ Wir fuhren immer raus in den Gäuboden zu den großen Bauern. Mein Spruch lautete immer: „Grüß Gott, Bäuerin, wie wär es mit einer Tabakdose für den Bauern? Einer Schmuckdose für die Hoftochter oder einem schönen Wandteller für der Großmutter ihre Kammer oder ein Kruzifix, wenn der Sohn bald heiratet.“ Dann kamen die Antworten, vom Rauswurf bis zum Supergeschäft war alles dabei. Oft kamen Vater und ich nach zwölf Stunden todmüde und durchgefroren zurück und hatten nicht ein Teil getauscht. Dies war für mich, ein 13-jähriges Mädel, sehr traurig.
Eines Tages, es war der zweite Adventsamstag, fuhren wir wieder bei Kälte und Dunkelheit frühmorgens los. Von 8 bis 16 Uhr ging es von Hof zu Hof, von einem Dorf zum anderen, aber es war wie verhext, überall dieselbe Antwort: „Wir haben schon alles, wir brauchen nichts.“ Einige Kilometer vor unserem Heimatdorf sah Vater noch ein Licht etwas abseits von der Straße in einem Fenster. Er sagte zu mir: „Geh, Liesl, versuch es noch ein letztes Mal.“ Aber ich war schon so durchgefroren, müde und enttäuscht, dass ich einfach nicht mehr wollte.
Da aber Vater sehr eindringlich auf mich einredete und mich an die traurigen Gesichter meiner Mutter und meines Bruders erinnerte, ging ich los, allerdings mit dem festen Vorsatz, nur bis zum Zaun zu gehen und auf keinen Fall mehr ins Haus, um noch mal eine Absage zu erhalten. Kaum war ich in die Nähe des Hauses gekommen, als der Hofhund zu bellen begann und eine tiefe fast brummige Stimme rief: „Ist da jemand?“ Und da blieb mir nichts anderes über, als mich zu melden. Eine schon ältere Frau kam auf mich zu, schaute mich an und zog mich sofort ins Haus. Sie fragte mich, was ich bei der Kälte und Dunkelheit noch draußen suchen würde.
Vor lauter Kälte und Hunger bekam ich keinen Ton raus, ich sah nur auf dem Tisch im Herrgottswinkel einen großen Laib Brot und einen Blechteller mit goldgelber Butter. Meinen hungrigen Blick hat die Bäuerin bestimmt bemerkt, sie nahm mir wortlos Rucksack und Tasche aus meinen eiskalten Fingern und schob mich auf die Eckbank.
Ich bekam eine große Tasse mit heißer Milch und eine dicke Scheibe Bauernbrot mit viel Butter drauf. Ich muss gestehen, ich hatte alles vergessen: meinen Vater draußen in der Kälte, meine Mutter und Bruder zu Hause, ja sogar mein Tauschgeschäft.
Um es kurz zu machen, ich tauschte an diesem unvergessenen Adventabend zwei Tabakdosen, drei kleine Schatullen und ein Kreuz mit Herrgott in Lebensmittel um und bekam auch noch die Bestellung von einem Hausnummernschild und für ein größeres Feldkreuz.
Als ich von meinem Butterbrot ein Stück für meinen Bruder aufheben wollte, meinte die Bäuerin: „Iss nur, für deinen Bruder bekommst du was mit.“ Und wirklich, als ich schon in der Tür stand, bekam ich noch einen halben Laib Brot und einen Knödel Butter, „extra für deinen Bruder und dich“, meinte die gute Frau.
Sie lebt schon lange nicht mehr, aber noch heute, besonders jetzt in der Adventszeit, denke ich an „meine Christkindlbäuerin“, so nannte ich sie damals, als Vater und ich heimkamen.
Bogener Zeitung , 21.11.2015