Die härtesten Winter des 20. Jahrhunderts - Eine persönliche Betrachtung
Autor: Alois Bernkopf, in: SR-Tagblatt vom 16. Februar 2012, Seite 19
Straubing-Bogen. Gerade wird es wieder wärmer, doch heuer bibberte Deutschland recht lange unter arktischer Kälte. Der älteren Generation kommen da Erinnerungen an die kältesten Winter der letzten 70 Jahre in den Sinn, vor allem an harte Kriegs- und Nachkriegswinter. Hart waren die Winter 1939/40, 1946/47, 1955/56 und auch 1962/63. Um jedoch sicher zu sein, ob die Erinnerung an die Kälte nur subjektiv ist, oder ob es tatsächlich extrem kalt war, muss man sich meteorologische Werte ansehen.
Die Berichte des Deutschen Wetterdienstes, dargestellt in „Zeitreihen der durchschnittlichen Lufttemperatur in Deutschland“ geben Auskunft. Der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts war der Winter 1962/63 mit minus 5,5 Grad. Die kältesten Wintermonate der letzten 100 Jahre waren der Februar 1956 mit minus 9,6 Grad, der Januar 1963 mit minus 7,5 Grad und der Februar 1947 mit minus 6,6 Grad. Die wärmsten Winter der letzten 260 Jahre waren 1989/90 mit plus 3,5 Grad und 2006/07 mit plus 4,4 Grad.
Bangen um die Soldaten in den kalten Kriegswintern
Die Kriegsjahre 1940 bis 1945: Die Reihe der sehr kalten Winter mussten die deutschen Soldaten während der 2. Weltkriegs in Russland ertragen. Während es in Deutschland im Durchschnitt „nur“ minus 4,0 Grad hatte, sank das Thermometer in Russland vielfach auf unter minus 30 Grad ab. Viele Soldaten, die nicht in den Kämpfen gefallen waren, erfroren, vor allem durch mangelnde Ausrüstung oder in Kriegsgefangenschaft. Auch vier meiner Onkel mussten in Russland das Leben lassen. An einem Sonntag, im Winter 1943, stand beim Gottesdienst in der Kirche in Marschendorf im Riesengebirge eine sogenannte Tumba vor dem Altar; eine Scheinbahre mit einem schwarzen Tuch bedeckt und obenauf lagen zwei Stahlhelme. Meine Mutter erkläre mir auf meine Frage, die Stahlhelme sollten zwei gefallene Soldaten symbolisieren. Auf dem Heimweg beruhigte mich meine Mutter: „Sind wir froh, dass Papa wegen seines Herzfehlers nicht in Russland ist, sondern bei der FLAK (Flug-Abwehr-Kanone) auf der Insel Sylt.“
An noch etwas aus diesen Kriegswintern kann ich mich erinnern: Vor der Kirche verkauften Jungen und Mädchen in Uniform kleine Abzeichen, die Soldaten oder Wintersportler darstellten, mit der Aufschrift: WHW (Winterhilfswerk). - Der Grund, warum ich mich als Fünfjähriger auf den sonntäglichen Gottesdienst freute, war, dass meine Sammlung an WHW-Abzeichen von Woche zu Woche wuchs.
Im Flüchtlingslager bei minus 20 Grad (1946/47)
Unser Transport war einer der letzten, der die Vertriebenen aus dem Landkreis Trautenau im böhmischen Teil des Riesengebirges im Oktober 1946 aus dem Sammellager nach Bayern brachte. Dabei hatten wir noch Glück, denn wir kamen in die amerikanische Besatzungszone, während viele unsrer Landleute in die sowjetische Zone verfrachtet wurden. Da die Bauernhöfe und sonstigen Häuser schon mit Flüchtlingen belegt waren, kamen wir ins ehemalige RAD (Reichs-Arbeits-Dienst)-Lager Muckenwinkling. Es bestand aus zehn Baracken.
Alle waren schon belegt; so wurden wir mit 20 Personen in der noch leeren Küchenbaracke einquartiert. Alle standen ratlos vor ihren Habseligkeiten. Nach einiger Zeit erschien der Lagerleiter und erklärte in gebrochenem Deutsch, wir sollten uns Stroh von den Bauern im nahen Muckenwinkling holen, denn die amerikanischen Feldbetten würden erst in den nächsten Wochen geliefert. Die versprochenen Feldbetten wurden aber erst im Frühjahr geliefert, so dass das Stroh bis dahin als Nachtlager dienste. Einen Vorteil hatte das Stroh, denn es war eine gute Isolation auf dem Steinfußboden.
(Über das Leben in Baracke im Winter 1946/47 habe ich im „Mitterfelser Magazin 10/2004“ ausführlich berichtet.)
Auf der Piste mit den Skiern vom Dorfschreiner
Der Winter 1955/56 verlief ähnlich wie bisher der Winter 2011/2012. Im Dezember 2011 betrug die Durchschnittstemperatur plus 3,9 Grad, im Januar plus 1,9 Grad und im Februar wird sie aufgrund der sibirischen Kältewelle mit Sicherheit um die minus 5,0 Grad liegen. Dezember 1955: plus 2,4 Graf, Januar 1956: plus 0,2 Grad, Februar 1956: minus 9,6 Grad.
Vom 26. Januar bis 6. Februar 1956 fanden die Olympischen Winterspiele in Cortina d‘Ampezzo statt. Diese Tatsache motivierte uns Jugendliche in Oberalteich zum Skifahren. Der Further Berg war dafür gut geeignet, denn er war noch nicht bebaut und die Südseite bot auch für weniger Geübte ein ideales Gelände, da der Hang eben auslief. Unsere Ausrüstung war im Vergleich zu heute mehr als dürftig. Die Skier waren vom Dorfschreiner gefertigt, die Bindung bestand aus Lederriemen und Metallbacken; das Wichtigste war, dass sie nicht „aufging“.
Der „Experte“ aus dem Riesengebirge
Das konnte jedoch bei einem Sturz sehr gefährlich werden. So ausgerüstet sausten wir den relativ steilen Abhang hinunter. Die Geübteren ließen die Skier nicht auslaufen, sondern machten zum Abschluss der Schussfahrt einen mehr oder weniger gekonnten „Christl“ (Christiania-Schwung).
Da das „Schussfahren“ auf Dauer langweilig wurde, bauten wir eine Sprungschanze. Als ich erzählte, dass ich im Riesengebirge bereits in der ersten Klasse mit Skiern zur Schule gefahren sei, und ein Cousin meiner Mutter (Gustl Berauer) 1938 Weltmeister in der Nordischen Kombination war, galt ich sofort als „Experte“, obwohl ich keine Ahnung vom Skispringen hatte. An einem Sonntagnachmittag steigerten wir unsere Weiten mit verlängertem Anlauf von Sprung zu Sprung. Allerdings war bei ca. fünf Meter der „kritische Punkt“ erreicht, mehr gab die Schanze nicht her.
Mein Freund Toni und ich beschlossen, am nächsten Tag unsere Sprungkünste erneut zu erproben, aber die Schanze zu erhöhen, um größere Weiten zu erzielen. Nach der Rückkehr vom Gymnasium in Straubing trafen wir uns am Nachmittag am Hang. Wir erhöhten den Schanzenhügel, bedachten aber nicht, dass der Aufsprung bei zunehmender Weite ziemlich flach war.
Mit Gips im Bett beim Wintersport
Durch die niedrigere Temperatur war die Anlaufspur schneller geworden, außerdem verlegten wir den Anlauf höher den Hang hinauf. Eine Zeitlang ging alles gut und wir waren begeistert, weil wir nun größere Weiten erzielten. Da schlug mein Freund vor, die Arme wie beim Weitsprung nach vorne zu reißen, das habe er in der Zeitung gesehen. Ich versuchte dies wie empfohlen. Bei der Landung hörte ich einen Knacks ... als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich auf eine Bahre und wurde mit dem Sanka ins Krankenhaus Bogen transportiert. Die Diagnose: Bruch des Schienbeines und des Wadenbeines.
Nach drei Tagen bekam ich vom Belegarzt einen sogenannten Streckverband verordnet, um eine Verkürzung des Beines zu vermeiden. Als dies keine Wirkung zeigte, wurde ich nach Straubing ins Krankenhaus verlegt und operiert. Das „Krankenzimmer“ war ein großer Saal mit etwa 20 Betten, belegt von Patienten vom Kind bis ins hohe Alter, es war das Männerkrankenhaus der „Barmherzigen Brüder“. Zunächst bekam ich einen „Liegegips“, ein „Gehgips“ wurde mir in etwa drei Wochen versprochen. Mein Vater, der von Oberalteich täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit nach Straubing fuhr, besuchte mich auf der Heimfahrt fasst täglich und meinte: „Sei froh, dass du bei der Kälte im warmen Krankenbett liegst, wenn ich in der Früh zur Arbeit fahre, ist es meist kälter als minus 20 Grad.“ Für einen Jugendlichen ist das natürlich ein schwacher Trost, vor allem, da meine Klasse in dieser Zeit für eine Woche im Skilager in Waldhäuser am Lusen war. Als ich nach drei Wochen mit dem ersehnten Gehgips entlassen wurde, war auch die Kältewelle vorbei.
Schüler kämpften sich durch hohen Schnee
Der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts mit einer Durchschnittstemperatur von minus 5,5 Grad war 1962/63. Zu Beginn des Schuljahres im Herbst trat ich meine erste Stelle als Lehrer an der Volksschule Elisabethszell an. Da Lehrerstellen damals an Dienstwohnungen gebunden waren, bekam ich diese im Lehrerwohnhaus zugewiesen. Das kam mir gelegen, denn im Spätherbst wollten wir heiraten.
Durch einen Verkehrsunfall meiner zukünftigen Schwiegermutter musste dieser Termin auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden. Dass es ein strenger Winter werden sollte, kündigte sich schon im November an. Am 19. November, Sankt Elisabeth, lag bereits mehr als ein halber Meter Schnee. An diesem Tag fand in Elisabethszell eine Hochzeit statt, und von den Fenstern des Klassenzimmers aus sah man die Hochzeitsgäste durch den tiefen Schnee stapfen. Die geschlossene Schneedecke, die von Tag zu Tag zunahm, lag bis Ostern; dennoch fehlte keiner meiner 30 Schüler wegen des Schnees auch nur einen Tag oder kam zu spät, obwohl der Schulweg zum Teil bis zu einer Stunde betrug und es damals noch keine Schulbusse gab.
An einem Tag in den Weihnachtsferien fuhr ich von Oberaltreich nach Elisabethszell um in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Eine Zentralheizung war nicht vorhanden, nur einzelne Ölöfen. Die Wasserrohre hatte ich vorsichtshalber abgedreht, nur die Toilette hatte ich vergessen. Als ich diese betrat, war in der „Schüssel“ eine dicke Eisschicht, die die Keramik bereits in zwei Teile hatte zerbersten lassen.
Lange Unterhosen unterm Anzug und Braut im Nerz
Am 23. Februar war endlich der Hochzeitstermin anberaumt. Das war der letztmögliche Tag vor Ostern, denn in der Fastenzeit durfte damals keine kirchliche Trauung stattfinden. Inzwischen hatte die Kältewelle mit etwa minus 25 Grand ihren Höhepunkt erreicht. Es war selbstverständlich, dass ein Bräutigam zur Trauung einen dunklen Anzug trug. Die unbeheizte Kirche in Oberalteich hatte etwa Kühlschranktemperatur, deshalb trug ich unter dem Anzug vorsichtshalber eine lange Unterhose und zwei Unterhemden – das Doppelte wäre besser gewesen. Unglücklicher Weise hatte ich am Vorabend auch noch mit Freunden meinen Junggesellenabschied gefeiert. Meine Frau neben mir im weißen Nerz über dem Hochzeitskleid schien von der Kälte unberührt. Als sie mich beim Verlassen der Kirche fragte, warum ich bei der Trauung so gezittert hätte, deutete ich auf ihren Nerz und meinen Hochzeitsanzug.